Void. Mein Textentwurf vom Januar als Mitteilung von ihr an mich. In der Situation des Donnerstagabends, 23. Mai. Beschrieben im Posting Interventionen. Dort behaupte ich, dass ich die Botschaft verstanden habe. Was habe ich verstanden? Und habe ich sie wirklich verstanden?
Intuitiv habe ich es so aufgenommen, dass sie mich damit an mein zärtliches, liebevolles Verhältnis zu ihr erinnert, wie es zum Ausdruck kommt in meiner Beschreibung ihrer zarten muskulösen Schenkel. Und dass sie hinweist auf ihre Schutzlosigkeit. Schutzlosigkeit, das Wort verwende ich zur Beschreibung davon, wie die Figur der Schwester, Linda, im Film erscheint. – Gelesen habe ich diesen Hinweis von ihr im Sinne von: ich bin schutzlos wie diese Linda, ausgeliefert und zugleich geborgen in der Situation, in der ich lebe hier. Schade mir nicht, indem du das zerstörst! – Das ist eine Interpretation aus dem Kontext, im Text selbst nur assoziativ festzumachen. Aber diese Lesart hat die Plausibilität des ersten Gedankens.
Der zweite Gedanke, erst am Ende des Abends gedacht: Will sie mir etwa sagen, dass sie mit dem Mann da drüben in einer inzestuösen Beziehung lebt? – Das im Text beschriebene enge Verhältnis von Schwester Linda und ihrem Bruder Oscar. Will sie mir damit eine Begründung geben dafür, warum der Nachbar sie versteckt? Versteckt nicht nur von mir, sondern überhaupt? Diese Vorstellung ist von großem epischen Reiz, ich habe sie deshalb auch noch weiter ausgesponnen. Ohne sie aber ernsthaft in Erwägung zu ziehen und abgetan mit dem Einwand: Sie und ihr Freund haben nicht die geringste Familienähnlichkeit.
Doch es ist nun mal so: Da drüben stimmt etwas nicht. Wie er sich verhielt, als er mich abgewimmelt hat bei meinem unangekündigten Besuch, mit dem ich ihm die Möglichkeit gegeben habe, ein für alle Mal klare Verhältnisse zu schaffen und mich damit los zu sein für immer – sein Verhalten dabei ist so bizarr gewesen, dass es nur zu erklären ist damit, dass er entweder etwas zu verbergen hat oder dass er ein extrem verschrobener Charakter ist, wogegen aber nicht nur mein Eindruck von ihm steht, sondern auch die Geschmeidigkeit, Alertheit, mit der er gelogen hat. - Aber könnte es nicht trotzdem so sein, dass es gar kein Geheimnis, nichts gibt, was er verbirgt? Dass nur mit ihm etwas nicht stimmt? In meinen Augen. Dass mir bizarr erscheint, was für ihn jedoch ein ganz selbstverständliches Verhalten ist: sich durchzusetzen nicht in offener Kommunikation, sondern manipulativ sein Ziel zu erreichen, mit einer Inszenierung. Und das Ziel ist: mich fernzuhalten von ihr. Was verständlich ist. Nur die Art und Weise irritiert. Mich.
Im Text ist von Inzest nicht einmal andeutungsweise die Rede. Inzest war eine Assoziation von mir. Doch wenn ich diese Assoziation habe, kann dann nicht sie die gleiche Assoziation haben? Und sie kann damit hindeuten auf etwas anderes, das im Verborgenen gehalten werden muss. Botschaft: Es gibt ein Geheimnis. Rühre nicht daran. Damit schadest du mir. Das kannst du nicht wollen, wenn du diese Zärtlichkeit für mich empfindest, mit der du über mich schreibst. - Erweiterung dessen, was ich mit dem ersten Gedanken verstanden habe. Ich neige zu dieser Lesart. Aber was ist dann das Geheimnis?
Bleibt im Text noch die Erzählung vom Tibetanischen Totenbuch, der Komplex Seelenwanderung, Reinkarnation. – Platt gedeutet: Will sie hinweisen auf eine Seelenverwandtschaft, die besteht zwischen ihr und mir – und damit zugleich eine Grenze markieren? – Als Seelenverwandte sind wir wie Schwester und Bruder. Aber da wir wie Schwester und Bruder sind, darf es für unsere Liebe keine Erfüllung geben. Lesart in meinem Interesse. Alternative Lesart: Sie bezieht die Seelenverwandtschaft nicht auf mich, sondern auf ihren Freund. Sie erklärt mir, dass sie nicht nur Schutz bei ihm findet, sondern mit ihm verbunden ist mit der gleichen Unzertrennlichkeit wie die Geschwister im Film, die nur Oscars Tod trennen kann. Ich neige nicht zu dieser Lesart. Denn warum hat sie sich dann auf eine Geschichte mit mir eingelassen, die jetzt an dem Punkt angelangt ist, dass ich einen Text von mir als eine Botschaft von ihr erhalte und interpretiere? Einfacher formuliert: Warum hat sie sich dann auf die heimliche Romanze mit mir eingelassen?
Schließlich: Oscar wird getötet, erschossen von der Polizei auf der Toilette eines Club. Der geliebte Bruder Lindas, mit der ich sie identifiziert habe und mit der sie nicht nur die langen dünnen Beine gemeinsam hat, sondern auch die Schutzlosigkeit. – Wenn sie Linda ist, dann bin ich Oscar, und Oscar wird getötet. Also eine Warnung? – Wieder: Das schließe ich – intuitiv – aus. Zugleich verspreche ich, noch ein bisschen mehr auf mich aufzupassen als sonst.
Habe ich etwas übersehen? – Hier ist er noch mal der Text. Mein Text vom Januar, mir jetzt zugespielt von ihr als Mitteilung an mich. Bitte lesen und verstehen! – Die Kommentarfunktion ist offen. Und alle können kommentieren, auch Gespenster und Namenlose.
Void
Die Tess hat lange schlanke Beine. Ihre Oberschenkel sind muskulös. Auf eine zarte Art muskulös. Wenn sie nicht muskulös wären, dann wären ihre Oberschenkel dünn. Entweder die Tess macht einen Sport oder hat einen Sport gemacht, bei dem sie diese muskulösen Oberschenkel bekommen hat. Oder sie hat sie sich gezielt antrainiert (body shaping), weil ihr ihre dünnen Oberschenkel nicht gefallen haben. Weil sie nicht so lange dünne Beine haben wollte wie Linda, Schwester von Oscar, in dem Film Enter the Void, von Gaspar Noé, gestern Abend gesehen auf DVD. Die langen dünnen Beine Lindas ein key visual des Films. Immer wieder Lindas nackte langen Beine mit den dünnen Oberschenkeln. Linda ohnehin die meiste Zeit halbnackt zu sehen in dem Film. Deshalb, weil sie als Tänzerin in einem Nachtclub arbeitet. Aber auch, um uns ihre Schutzlosigkeit spüren zu lassen. – Plot: Geschichte von Oscar und Linda, Geschwistern, die sich als Kinder versprochen haben, immer zusammen bleiben, nach dem Tod der Eltern getrennt voneinander in Waisenhäusern aufwachsen, viele Jahre später in Tokio wieder zusammen kommen und ihren Treue-Pakt erneuern. Doch dann wird Oscar schon nach … Minuten des Films auf der Toilette eines Clubs von der Polizei bei einem Drogengeschäft erschossen. Kurz vor seinem Tod spricht er mit seinem Freund Alex über Das tibetanische Totenbuch, das der Freund ihm geliehen hat. Oscar ist fasziniert von der Lektüre, aber da er sich ständig mit Drogen zuballert (DMT, Ecstasy, Kokain), fehlt es ihm auch an Konzentration. Deshalb lässt er sich die Quintessenz des Buches von seinem Freund noch mal erklären. Die Quintessenz des Tibetanischen Totenbuches ist eine präzise, detaillierte Vorstellung vom technischen Ablauf von Seelenwanderung. Davon, wie der Geist (spirit) den Körper nach dem Tod verlässt, darauf wie in einem Wunderspiegel (magic mirror) noch einmal sein ganzes Leben betrachtet und danach durch die Welt schwebt, bis er einen neuen Körper findet, in dem er sich reinkarieren kann. - Wie? – Indem er verschmilzt mit einem Leben, das gerade gezeugt wird. – Und das ist es in groben Zügen, was in den verbleibenden … Minuten von Enter the Void passiert, nachdem Oscars Körper zusammengekrümmt in einer Blutlache auf dem Boden der Toilette in dem Club liegt und sein Geist und wir mit ihm seinen Körper verlassen. Erst der Blick zurück auf sein Leben. Auf die Kindheit mit der Schwester und die Umstände ihrer Trennung. Schließlich Oscars Seelenwanderung durch Tokio, bis zu dem Moment, ... .
(hier endet das Textstück aus der Zwischenablage, der Originaltext geht noch weiter)